Teil 1

Von eigenen und fremden Wegen

Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint:
ich wurde in ein wunderbar kreatives Umfeld
hineingeboren!

Im Gegensatz zu mir, ist meine Mama in einem Häuschen mit Garten aufgewachsen.
Sie stammt aus einer Schneiderfamilie und meine Begeisterung für das Textile, für
Stoffe, Fasern und Faltenwürfe, ist wohl ein Erbe dieser Ahnenlinie.

Obwohl — dieses exakte, ordentliche Nähen nach Schnitt und Vorlagen, wie es meine
Vorfahren so kunstvoll beherrschten und ich es auch in groben Zügen in der Schule
gelernt habe, ist nie Meins gewesen — aber dazu später...

Die kleine Schneider—Werkstatt meines Urgroßvaters, die ich als Kind leider nur noch
als Gartenhäuschen und Abstellplatz für Möbel und Liegestühle kennengelernt habe,
stand damals hinten im Garten zwischen Beerensträuchern und alten Obstbäumen,
gleich neben dem Schweine— und Hühnerstall.

Wie gerne hätte ich all das mit eigenen
Augen gesehen!

Oft hat mir meine Mutter erzählt, wie die Kunden meines Urgroßvaters
hochachtungsvoll den Hut zogen, wenn sie dem Herrn Schneidermeister, der so
großartige, maßgeschneiderte Anzüge anfertigte, auf der Straße begegneten —
besonders jene, die Schulden bei ihm hatten!

So oft wie möglich sind wir, auf damals noch ruhigen, grün bewachsenen Wegen, zu diesem
wunderbaren Häuschen spaziert, in dem meine Großmutter lebte, und es war immer
ein Spaß für uns Kinder als Allererstes den Boden ihres Wohnzimmers nach verloren
gegangenen Nadeln abzusuchen — erst dann konnten wir gefahrlos herumlaufen und
spielen.

Noch heute sehe ich in Gedanken ihr belustigtes Lächeln vor mir, wenn ich mich in
meinem Atelier auf ebendiese Suche nach Nadeln mache!

Mein Papa wiederum, dem der Jugendtraum Steinmetz oder gar Bildhauer
zu werden in Nachkriegszeiten verwehrt blieb, beschäftigte sich sein Leben lang mit
künstlerischem Schaffen, ohne jedoch mit seinen wunderbaren Holzarbeiten und Bildern
an die Öffentlichkeit zu treten.

In seinem Bücherregal entdeckte ich in Mädchenjahren mit Staunen und
Bewunderung einen Bildband über Auguste Rodin — meine erste Begegnung mit Camille!

Mehr als 40 Jahre später auf der Suche nach einer inspirierenden weiblichen
Künstlerin für “Fearless, female artist in history” begegnet mir ihr Name erneut,
zieht mich in seinen Bann — Camille, sie ist die perfekte Wahl, keine sonst kann es sein!
Das Internet macht das Recherchieren, das ich so sehr liebe, leicht — ich lese alles, was
ich über sie finden kann, studiere ihre heute so berühmten Werke und die Verfilmung in
hochkarätiger Besetzung.

Tauche ein in Camilles Welt, folge ihren Spuren, den zielstrebigen Spuren einer
jungen, hochtalentierten Künstlerin, die zur Zeit der Jahrhundertwende mutig ihrer
Berufung folgt.

Ihre ausdrucksstarken Skulpturen sollten zeitlebens im Schatten des berühmten
Meisters Auguste Rodin stehen, mit dem sie eine leidenschaftliche, aber letztendlich
unglückliche Liebesbeziehung verband.

Gerade 19 Jahre ist sie jung, als sie den viel älteren Bildhauer kennenlernt, rund 14
Jahre lang arbeitet sie an seiner Seite als Muse, Modell, Geliebte, Mitarbeiterin an
seinen Skulpturen und eigenständige Künstlerin, die in der männlich dominierten
Domäne um Anerkennung kämpft.

Getrieben vom Wunsch nach Wertschätzung und Gleichbehandlung stellt sie Rodin, der
offiziell mit Rose Beuret liiert ist, vor die Wahl — doch er entscheidet sich für die
gesellschaftlich anerkannte Beziehung mit der älteren, langjährigen Lebensgefährtin.

Eine Entscheidung, die Camille in tiefe Verzweiflung stürzt. Mit gebrochenem
Herzen verliert sie sich selbst, flüchtet in ihre Arbeit, in Isolation und Alkohol.

Rund 1 Jahr später nach dem Tod ihres Vaters, der stets an sie geglaubt und ihre
künstlerische Begabung finanziell unterstützt hat, lässt ihre Mutter die
ungeliebte, skandalöse Tochter gewaltsam in eine Anstalt für psychisch Kranke
einweisen.

Camille schreibt flehende Briefe an ihre Familie, in denen sie um Freiheit und
Entlassung fleht — sie stirbt nach unvorstellbaren 30 Jahren Internierung an
Hunger, Kälte und einem Schlaganfall begraben in einem Massengrab!


Erst viel später wird man ihre Werke würdigen, erst viel später wird ihr die
Bewunderung und Anerkennung zuteil, die sie so sehr ersehnt hat...

Teil 2

Licht und Schatten

Gänsehaut bekomme ich, wenn ich über Camilles Schicksal lese, Gänsehaut und ein
beklemmendes Gefühl im Hals.

Wie immer entsteht eine erste hingekritzelte Skizze auf Papier:

Licht und Schatten soll sie zeigen meine textile Arbeit — den Glanz, ihr Talent, die
Liebe, die Verzweiflung, den Bruch und die Entfremdung von sich selbst.

Ihre Skulpturen, ihre großartigen Werke sollen Teil des Ganzen sein:

— die “Bronze Büste von Rodin”, in deren Schatten ihr Portrait stehen soll
— “Der Walzer”, das tanzende Paar, ein Inbegriff an Leidenschaft und Harmonie
— “Die Flehende”, Teil der Figurengruppe, die nach dem Bruch mit Rodin
entstanden ist.

Gemalt bzw. genadelt in Wolle — so der Plan...


Altes Fotomaterial ist schwer zu finden:
Immer wieder dasselbe Bild von Camille mit 19 (oder 20?) Jahren vom Fotographen
festgehalten in einer weichen, verschwommenen Schwarz—Weiß—Aufnahme.
Stolz und zielstrebig erscheint sie auf dieser Fotographie, das Kinn selbstbewusst nach
vorn gerichtet, aber auch etwas Zartes, Zerbrechliches ist da, das auch auf den
spärlichen, anderen Abbildungen zu sehen ist.

So jung ist sie, fast noch ein Mädchen, gekleidet in die brave, hochgeschlossene
Frauen—Kleidung ihrer Zeit, die langen Haare mit Schleifen streng zusammengebunden.
Das angepasste “Außen” scheint so gar nicht zu ihrem Inneren, ihrem starken,
freien Geist zu passen. Ich kann nicht anders ich muss die Haare etwas lockern,
den strengen Kragen weglassen...

Es ist schwierig nach so alten Abbildungen zu portraitieren, die Linien sind weich und
verschwinden.

Ich frage mich inwieweit dieses Bild Ausdruck ihrer wahren Persönlichkeit ist?

Was macht sie aus — was ist nur Teil dieser vom Fotographen arrangierten
Momentaufnahme?


Skizzen, Schatten und Akzente entstehen auf Stoff mit natürlichen Materialien — ein
bisschen Textilfarbe darf es später auch sein, um Effekte zu setzen. Stoffreste
finden Platz und werden wieder beiseite geräumt: alte Vorhangstoffe,
Baumwollreste, Seide, Pflanzengefärbtes aus vergangenen Sommertagen, Jute und
Samt. Ich liebe es alte, gebrauchte Dinge wiederzuverwerten!


Nach und nach setzt sich das eine oder andere durch, nimmt die Komposition Form an.

Manchmal verwünsche ich mich für die anfangs so genial erscheinenden Ideen, die
meinen Geist beflügeln und mich dann vor fast unlösbare Aufgaben stellen, aber immer
halt ich durch und krieg es dann letztendlich doch hin — Hartnäckigkeit und Ausdauer,
zwei meiner “besten” (?) Eigenschaften.


Zum Filzen der Skulpturen braucht es möglichst viele Abbildungen
aus verschiedenen Perspektiven.


Erst genadelt, dann nassgefilzt und vorsichtig ausgeschnitten finden sie Platz
auf dem großen Tuch.

Texte auf Stoff, ein Satz in Camilles Original—Handschrift aus einem ihrer Briefe
auf Französisch in einer fremden Sprache, die ich nicht spreche — es erscheint mir
richtig so. Irgendwann will ich sie lernen, ein langgehegter Vorsatz! Irgendwann
Frankreich erforschen, das mich magisch anzieht...

Langsam fügt sich eines zum anderen. So viel Experimentelles — was, wenn durch das
Malen auf Stoff Falten an den falschen Stellen entstehen?

Die Nähmaschine kapituliert und viele, viele Stellen nähe ich Zentimeter
für Zentimeter mit der Hand. Eigentlich mag ich das!

Näharbeiten nach Schnitt und Vorlagen sind, wie gesagt, nicht wirklich meine Sache und
so aufregend das Freinähen ohne Transporteur und Führung auch ist, am
Liebsten ist mir doch die eigene Hand—Arbeit ganz ohne Maschinen und Geräte, nur Nadel
und Faden, nur Pinsel und Farbe, nur Papier und Stift.


Auf diese Weise zu arbeiten fühlt sich an wie einen hohen Berg zu erklimmen: voll
Begeisterung und Inspiration die Planungsphase, mühsam Schritt für Schritt
erkämpft der Weg. Am Gipfel angekommen ein kurzes, heftiges Glücksgefühl, unendliche
Erschöpfung und später ein leichtes Bedauern, weil alles schon getan ist.


Richtig zufrieden mit dem Ergebnis bin ich selten — immer dieser kritische Blick!
Aber diesmal wird die Reise weitergehen...

Teil 3

Verona wir kommen

Der 28. April rückt näher und näher, die Aufregung und Vorfreude wächst Hand in
Hand mit dem üblichen “Reisevorbereitungs— Stress” — so Vieles ist zu versorgen, wenn
wir nicht da sind: Listen schreiben für die Großeltern, die sich liebevoll um all die Tiere
und unser Zuhause kümmern, während wir in den Süden reisen...


Für gewöhnlich machen wir Entspannungs— Urlaube, an irgendeinem wunderbarem Ort —
meist am Meer — genießen, wohlfühlen, Natur erforschen, verwöhnen lassen, um
dann gestärkt und sehnsüchtig in unser eigenes grünes Paradies zurückzukehren.


Diesmal ist alles anders: eine Städtereise, Ausstellungen, Abenteuer!


Obwohl ich in der Stadt aufgewachsen bin, habe ich schon als Kind jede freie Minute mit
meinen Eltern im Grünen verbracht.
Wie Camille, die in Villeneuve—sur—Fére in der Campagne aufwächst und die uralten Felsen
am Hottée du Diable über alles liebte, liebe auch ich alte Kraftorte, die Geschichten
erzählen.


Die bezaubernde Innenstadt Veronas mit ihrem südlichen Flair hat viel zu erzählen
und ist mehr als eine Reise wert!


Schmale, enge Gassen mit wunderschönen, alten, zum Teil bunten Hausfassaden, kleine
gemauerte Balkone mit steinernen Säulchen oder geschmiedetem Geländer, von denen
Grünpflanzen nach oben streben oder herab hängen, mit lebensgroßen Skulpturen
geschmückte, geschichtsträchtige Bauwerke.


Manchmal möchte man einfach nur stehen bleiben und sich im Kreis drehen, schauen,
staunen, entdecken und bewundern, was zugegeben nicht so einfach ist, denn
zumindest an diesem verlängerten Wochen ende Anfang Mai, ist Verona auch eine von
Touristen überlaufenen Stadt: so unfassbar viele Menschen aus der ganzen Welt, so viele
Hunde aller Rassen — ein ständig wogender Strom, der sich durch all die wunderbaren
Gassen drängt, einkauft, isst, trinkt und zielstrebig von einer Sehenswürdigkeit zur
nächsten pilgert und doch — so scheint es mir — so Vieles nicht bemerkt, nicht sieht, nicht
zum Stillstand kommt.


Es ist schwierig zwischen all den Menschen stehen zu bleiben, sich gegenseitig nicht aus
den Augen zu verlieren und ruhigere Bereiche zu entdecken, an denen man den
Zauber und den Glanz der Vergangenheit erahnen und erspüren kann. Ein Phänomen,
das, wie ich von anderen Städtereisenden höre, nach den Einschränkungen der letzten
Jahre wohl in vielen Städten der Welt erfahrbar ist.


So schade! Wir versuchen es trotzdem zu genießen, streichen den “Balkon der Julia”,
der im Übrigen ja doch nicht historisch ist, und die Arena, die einzigen beiden,
berühmten Sehenswürdigkeiten, die auch wir gerne besucht hätten, denn vor jeder stehen
lange, wartende Menschenschlangen — es gibt auch so genug Schönes und
Bemerkenswertes zu sehen!


Wir entscheiden uns für ein absolut genussvolles Tiramesu im “Cappa Cafe” im
Halbschatten unter der Platane statt zu streiten um die dicht an dicht gedrängten,
heiß begehrten kleinen Tische auf den schmalen Balkonen mit Sicht auf das
imposante Castel san Pietro am anderen Ufer, die Ponte Pietra und den Fluss, den
man auch im Vorbeischlendern bewundern kann.


In der Strömung dümpeln Möwen und ein einzelnes, unwiderstehlich plüschiges
Gänseküken, das von vier ausgewachsenen Gänsen achtsam behütet wird.


Vorbei an liebevoll gestalteten Schaufenstern mit wunderschönen Quilts
wie bei Terra Crea (wo ich ein paar tolle handgemachte Ohrringe erstehe!),
Carbaline, Liberia Mondadori und vielen mehr — leider spiegeln die Fenster zu sehr für
gute Fotoaufnahmen mit unserer Handykamera, aber ein bisschen erkennt man
sie, die textilen Arbeiten, die zur Verona tessile einladen...


Ab 30. April, 2 Tage nach unserer Ankunft, sind die, mit textilen Kunstwerken
geschmückten, Palazzos, Museen und Kirchen für Besucher geöffnet. Für uns leider der
einzige Ausstellungstag mit zu vielen Standorte, um sie an nur einem Tag zu
erobern (wir oder besser ich bin nicht mehr so jugendlich und fit beim Laufen!). Aber die
Ausstellungsstücke, die wir sehen, sind großartig und bewundernswert: textile
Kunstwerke aus aller Welt zu verschiedensten Themen, die Geschichten
erzählen oder durch Farben und Strukturen beeindrucken.

Vieles muss man sowohl von Weitem, als auch aus der Nähe betrachten, Fotographien
werden dem persönlichen Eindruck nicht annähernd gerecht.

Ich bedauere es immer wieder kein Italienisch zu sprechen, denn kaum jemand
spricht gut Englisch und so gibt es kleinere und größere, zum Teil amüsante
Missverständnisse bei alltäglichen Herausforderungen wie beim Essen bestellen,
beim Auffinden des richtigen Palazzos, in dem die eigene Arbeit ausgestellt ist, bei der
Eröffnungsfeier mit einigen, für uns leider unverständlichen, Ansprachen und dem
vermeintlichen Piano—Konzert “piano nobile”, das sich als Etagenbezeichnung
herausstellt, und dem in Wirklichkeit ein gemütlicher, kleiner Umtrunk mit Buffet im
“Palazzo Die Mutilati” folgt!


Hier im traumhaften, historischen Ambiente ist auch die Präsentation der Werke zu
“Fearless female artists in history” und ich finde meine Arbeit über Camille ganz
wunderbar beleuchtet zwischen vielen, sehr unterschiedlichen, kunstvollen textilen
Werken. Es ist ganz erstaunlich, denn abgesehen von einer gemeinsamen
Themenarbeit mehrerer Künstlerinnen, hat offenbar niemand die gleiche Persönlichkeit
gewählt!


Ich lerne Teresa kennen, die Präsidentin der Associazione ad Maiora, eine zierliche, kleine
italienische Dame, die mich herzlich willkommen heißt. Der Abend endet mit
einem Gläschen Wein und einer letzten Rundreise durch Verona per Taxi zurück in
das liebevoll geführte, am Rande von Verona zwischen Weingärten und ländlichen Häusern
gelegene, Bed & Breakfast “La magia die Sogni”. Schnell noch Koffer packen...

Abreise um 4.30 Uhr morgens nach einer viel zu kurzen Nacht aus dem sonnig—
warmen Italien — müde und bereichert mit vielen, wundervollen Impressionen, an denen
ich noch lange zehren werde

Ciao Verona — Ciao bella Italy!

Die Veranstaltung “Verona tessile” wird noch bis zum 3.Mai zu besuchen sein, meine
textile Arbeit auf dem Postweg zurück nach Österreich reisen — Camille jedoch, wird mich
noch länger begleiten in dem Buch von Anne Delbée “Der Kuss, Kunst und Leben der
Camille Claudel”, das ich, immer wieder wenn ich zwischendurch ein bisschen Zeit finde,
lese und in “Camille Claudel, ein Leben in Stein” von Barbara Krause, das noch
vielversprechend und ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch liegt und auf mich wartet.

Und ja, wer weiß, vielleicht passiert es ja doch noch und ich folge eines Tages ihren
Spuren in die Champagne oder eine andere verheißungsvolle Gegend Frankreichs und —
wer weiß, möglicherweise könnt ihr dann hier in diesem Blog lesen wie die Reise
weitergeht...


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